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"Als könnte ich sie berühren"

Interview mit den beiden Skialpinisten Hilaree Nelson und Jim Morrison

Sie sind Seilpartner, am Berg wie im Leben. Und fahren dort Ski, wo vor ihnen noch niemand abgefahren ist: Hilaree Nelson und Jim Morrison. Im Herbst 2018 fuhren sie als erste vom Gipfel des Lhotse, dem vierthöchsten Berg der Erde. Zuletzt waren die beiden Amerikaner zusammen mit Conrad Anker in der Antarktis - für Erstbefahrungen am höchsten und zweithöchsten Berg des Kontinents. In diesem Interview anläßlich der EOFT erzählen sie von Halluzinationen auf 8.000 Meter Höhe, von guten und von schlechten Ängsten und wann es hilft, an die eigenen Kinder zu denken. Und wann nicht.

Von Claus Lochbihler
 

Skiabfahrt vom Lhotse - Foto: Nick Kalisz | The North Face - EOFT
Skiabfahrt vom Lhotse - Foto: Nick Kalisz | The North Face - EOFT

Ihr beide seid nicht nur am Berg Partner, sondern auch im Leben. Welchen Einfluss hat das auf euer Bergsteigen?

HILAREE NELSON: Er macht mich weicher. Lachen.

JIM MORRISON: Das sagt sie immer, wenn sie das Gefühl hat, dass ich ihr zu viel helfe. Oder mich zu sehr sorge. Sie will stark bleiben.

HILAREE: Ja.

JIM: Einige Male hat unsere Beziehung uns geholfen, alpinistische Schwierigkeiten zu meistern. Herausforderungen, die wir allein oder mit jemand anderem nicht geschafft hätten.

Weshalb?

JIM: Wenn wir nicht so gut miteinander vertraut wären, würden wir an manchen Tagen vielleicht sagen: Ich bin mir nicht sicher, wie mein Bergpartner heute drauf ist. Und wie er die Verhältnisse einschätzt. Vielleicht sollten wir umkehren. Aber als Paar verstehen wir die Gefühle und Psyche des anderen so gut, dass uns das pusht.

Ihr seid in den Bergen meistens zusammen unterwegs, obwohl ihr – so weit ich weiß – nicht zusammen wohnt?

JIM: Wir bewohnen zwei Häuser zusammen. Das von Hilaree in Colorado, meines in Kalifornien. Mal bei ihr, mal bei mir.

HILAREE: In den Bergen unternehmen wir das meiste zusammen. Für mich ist das eine relativ neue Erfahrung. Bis ich Jim traf haben meine Partner am Berg sehr oft gewechselt. Wie sehr es einen weiterbringt, dauerhaft mit einem Bergpartner unterwegs zu sein, mit dem alles passt, kenne ich erst seit Jim.

Geht es für euch bei den Expeditionen zu den höchsten Bergen der Erde eigentlich ums Skifahren? Oder ist das eine Variante des Höhenbergsteigens mit Skiern als schneller Abstiegshilfe?

HILAREE: Bei mir ist es wohl letzteres. Die Kombination aus großer Höhe und dem Bergsteigen – mit und ohne Ski. Und natürlich fahre ich lieber auf Skiern ab als dass ich absteige. Jim fällt eher in die erste Kategorie.

JIM: Auch ich suche oft den perfekten Powder. Aber wenn ich die Wahl habe, zwischen super Schnee auf der einen und einer richtig schwierigen, technischen anspruchsvollen Linie auf der anderen Seite, entscheide ich mich meistens für das Schwierigere, Gefährlichere. Mir gefällt, wenn es diffizil wird, wenn ich all mein Können aufbringen muss, um eine Linie abzufahren. Und wenn man das in sehr großer Höhe macht, wird es nochmals schwieriger – körperlich, physisch, psychisch. Und dadurch für mich reizvoller.

Eine der größten Herausforderungen des Skialpinismus habt ihr beide am 30. September 2018 bewältigt: Die Erstbefahrung des Lhotse-Couloirs im Himalaya. Wie haben ihr euch gefühlt vor dem ersten Schwung, 8.516 Meter über dem Meer?

JIM: Surreal. Hilaree und ich hatten so lange von dieser Skiabfahrt geträumt und die Expedition so lange geplant, dass es sich unwirklich angefühlt hat, als wir endlich oben standen. Aber auch ekstatisch, weil wir zu unserem Erstaunen direkt vom Gipfel abfahren konnten. Hilaree war ja schon mal auf dem Lhotse, im Frühling 2012, ohne Ski. Damals lag so viel weniger Schnee. Deswegen hatten wir Zweifel, ob wir direkt vom Gipfel würden abfahren können. Auch wenn im Herbst sehr viel mehr Schnee liegt – wegen des Monsuns und weil die Winterstürme den ganzen Schnee noch nicht von den Bergen geblasen haben. Sogar die enge Schlüsselstelle ging auf Skiern. So wurde es am Ende eine richtige Skiabfahrt vom vierthöchsten Berg der Erde.

Konntet ihr das Gipfelerlebnis genießen oder hattet ihr nur die Abfahrt im Kopf?

HILAREE: Wir waren 45 Minuten am Gipfel. So lange es windstill war.

JIM: Genug Zeit, um den unglaublichen Blick auf den Mount Everest zu genießen. Und sich ein bisschen auszuruhen. Der Aufstieg war anstrengend. 12 Stunden! Ich war ziemlich erschöpft. Hilaree hat irgendwann begonnen, sich für die Abfahrt fertig zu machen. Als ich gesehen habe, dass sie schon einen Ski anhatte, dachte mir icHilaree: Jetzt musst du schauen, dass du für die Abfahrt bereit bist. Das dauert in der Höhe mit der ganzen Ausrüstung 20 Minuten: Man muss die Überschuhe ausziehen, die man im Aufstieg gegen die Kälte über den Skistiefeln trägt. Außerdem checkt man auf über 8.000 Meter ein paar Mal öfter, ob man auch richtig in der Bindung ist.

Wie war der berühmte erste Schwung, von dem alle Steil- und Extremskifahrer immer erzählen?

JIM: Wunderbar, erhaben, großartig. Der Schnee war sehr locker und kalt. Sugar Snow, sagen wir in Amerika. Mit jedem Schwung hat man einen kleinen Rutsch ausgelöst. Sluff, der unter oder über dir den Couloir hinunterrutscht.

War von vornherein klar, dass Jim als Erster einfahren würde?

HILAREE: Das haben wir erst am Gipfel entschieden. Jim hat mich gefragt, ob ich als Erste fahren möchte. Mir war lieber, dass er das macht.

JIM: Es war einfacher als Erster. Ich wär‘ nicht gern Zweiter gewesen. Es ist leichter, so etwas unverspurt zu fahren.

HILAREE: Es ist so steil da oben. Und exponiert. Ohne Schnee wäre die Passage direkt unter dem Gipfel eine 10 Meter hohe Felswand. Wir hatten Glück, dass so viel Schnee lag.

JIM: Ich musste nicht mal springen, bin einfach über die eingeschneiten Felsen gefahren.

HILAREE: 2012 war an genau der Stelle ein tschechischer Bergsteiger ums Leben gekommen – zwei Tage vor unserer Besteigung. Die Leiche liegt heute immer noch dort, am Fuß dieser kleinen Felswand. Wir haben sie nicht gesehen, weil so viel Schnee lag. Kann sogar sein, dass Jim und ich über ihn gestiegen sind. Kein schönes Gefühl.

Wie geht ihr mit so was um?

JIM: Man braucht sich nichts vorzumachen: In den allermeisten Fällen ist es unmöglich, eine Leiche von da oben zu bergen und zur Familie zurückzubringen. Also darf man keinen Fehler machen. Sonst bist du es, der als nächster liegen bleibt. Dann sagen andere Bergsteiger: Schau, da liegt die Leiche von dem armen Typen aus Amerika. Das willst du natürlich nicht.

Ihr wolltet die Abfahrt vom Lhotse ursprünglich ohne künstlichen Sauerstoff schaffen, hattet als Plan B aber Sauerstoffflaschen dabei.

JIM: Auf 8.200 Meter haben wir beschlossen, dass wir es doch mit zusätzlichem Sauerstoff machen.

Auch in der Abfahrt?

JIM: Ja. Weil es zu kompliziert und langwierig gewesen wäre, alles am Gipfel nochmal abzulegen. Hilaree war wichtiger als mir, Aufstieg und Abfahrt möglichst ohne zusätzlichen Sauerstoff zu bewältigen. Mir war am wichtigsten, das Couloir auf Skier zu befahren – gerne ohne Sauerstoff, zur Not auch mit.

Was war euer Kalkül, es doch mit Sauerstoff zu versuchen?

JIM: Wir waren beim Aufstieg im Couloir nicht so schnell wie wir sein wollten – wegen des vielen Schnees, der eingewehten Spur und der ständig wechselnden Schneeverhältnisse. Für die Abfahrt war der viele Schnee gut. Im Aufstieg war er ein Problem. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir es mit künstlichem Sauerstoff machen müssen. Auch, weil unser Zeit- und Wetterfenster begrenzt war. Ab 2 Uhr nachmittags war starker Wind vorhergesagt. Mit Sauerstoff kamen wir letztlich kurz nach halb 2 am Gipfel an. Wir wären sicher auch ohne zusätzlichen Sauerstoff hochgekommen. Aber deutlich später. Wir hatten Sorge, dass wir dann physisch möglicherweise nicht mehr in der Lage wären, auf Skiern abzufahren. Oder die Zeit zu knapp würde.

HILAREE: Eigentlich waren wir – gemessen an den Bedingungen – im Aufstieg gar nicht so langsam. Unsere ganze Expedition inklusive der Akklimatisation war ziemlich flott. Am 12. September waren wir im Basecamp, 18 Tage später schon am Gipfel. Das ist verdammt schnell.

Aufstieg am Fixseil bei frostigen Temperaturen
Aufstieg am Fixseil bei frostigen Temperaturen - Foto: The North Face - EOFT

War die Kälte ein Problem?

HILAREE: Warm zu bleiben stellt in der Höhe die größte Herausforderung dar – erst recht ohne künstlichen Sauerstoff. Um warm zu bleiben, muss man sich einigermaßen schnell bewegen. Das lässt einen aber schneller müde werden. Und dann kämpft man mit der dünnen Luft, ist ständig außer Puste, will viel lieber langsam machen. Wir hatten Angst, dass wir den vorhergesagten Wind abbekommen, wenn wir nicht schnell genug sind. Außerdem hatten wir uns - auch wegen des Gewichts - gegen Daunenanzüge entschieden. Deswegen war der Wind ein umso größeres Risiko.

Wie kalt war es?

JIM: Bis der Wind aufkam nicht besonders - dafür dass wir auf 8.500 Meter waren.

HILAREE: Um die minus 10 Grad. Wir konnten am Gipfel sogar die Handschuhe ausziehen.

JIM: Aber dann kam - wie vorhergesagt – der Wind auf. Und die Temperaturen fielen sehr plötzlich. Wie ein Stein, den man in die Höhe geworfen hat. Aber da haben wir auch gleich mit der Abfahrt begonnen.

Es heißt, dass der Lhotse-Couloir wie eine Sanduhr geformt sei. Mit einem engen Durchschlupf in der Mitte.

JIM: Das ist die Schlüsselstelle in der Abfahrt. Wir nennen sie den Pfropfen: the Choke. 15 Meter lang und an der engsten Stelle maximal 140 cm breit.

Kürzer als eure Ski.

HILAREE: Wir hatten nicht gedacht, dass wir das abfahren könnten. Höchstens, dass wir uns dort auf Skiern abseilen würden.

JIM: Jeder, der schon mal auf dem Lhotse war, hat gesagt: Nie im Leben könnt ihr diese Stelle abfahren. Aber der Wind hatte den Choke mit dem vielen Monsun-Schnee eingeblasen. Also haben wir es doch auf Skiern probiert. Es ging! Nur an der engsten Stelle mussten wir seitlich abrutschen. Danach weitet sich das Couloir recht schnell, bis es in die riesige Gipfelflanke des Lhotse mündet. Da hatten wir passagenweise richtig guten Schnee. Wie man ihn in dieser Höhe mit dem vielen Wind nicht erwarten würde. Da konnten wir sogar ein paar Powder-Turns aneinanderreihen.

Und weiter oben?

War der Schnee alle paar Meter völlig anders. Manchmal hatte man innerhalb eines Schwungs zuerst guten Schnee, dann Bruchharsch. Aber auf 7.000 bis 8.000 Meter Höhe rechnet niemand mit gutem Schnee.

Wie viele Schwünge konntet ihr aneinanderreihen?

HILAREE: Ganz oben macht man nur einen. Und sofort wieder Pause. Dann den nächsten.

JIM: Unterhalb des Gipfels ging es darum, jeden Schwung maximal kontrolliert zu setzen. Weiter unten waren auch mal drei Turns hintereinander möglich, dann fünf Minuten Pause, dann wieder drei.

HILAREE: Im oberen Teil des Couloirs musste man jeden Schwung den ständig wechselnden Schneebedingungen anpassen. Das kostet Kraft und Konzentration. Als wir am Ende der Rinne in die weite Gipfelflanke einfuhren, war der Schnee viel gleichmäßiger. Da hat das Skifahren sogar Spaß gemacht. Aber man bewegt sich immer noch auf 8.000 Meter Höhe.

Ihr seid beide schon mit wie auch ohne künstlichen Sauerstoff auf 8.000 Metern Ski gefahren. Wie fühlt sich das an?

HILAREE: Als ob man ertrinken würde. Man atmet ganz wild, aber es ist immer zu wenig. Und man erholt sich nicht, auch wenn man nach drei, vier Schwüngen eine Pause einlegt. Selbst mit künstlichem Sauerstoff erholt man sich nicht wirklich.

JIM: Ich vergleiche es mit einem 100-Meter-Sprint: dein Puls und deine Atemfrequenz schießen nach oben, je näher du der Ziellinie kommst. Die Lungen brennen. Aber beim 100-Meter-Lauf weißt du, dass es dir zehn oder 30 Sekunden nach dem Ziel wieder besser gehen wird, dass sich dein Körper erholt. Wenn du auf 7.000 oder 8.000 Meter Höhe Ski fährst, hast Du die gleiche Atemfrequenz wie bei einem 100-Meter-Lauf. Aber du erholst dich nie – auch wenn du Pause machst. Es ist, als ob du einen 100-Meter-Sprint nach dem anderen laufen musst und nie im Ziel ankommst.

Bekommt man da nicht Angst?

JIM: Man darf tatsächlich nicht in Panik verfallen. Man muss Geduld aufbringen, tief atmen, sich daran erinnern, dass der Sauerstoff schon kommt – auch wenn es nie genug ist. In dieser Höhe transportieren die Blutkörperchen ja Sauerstoff – nur eben viel, viel langsamer als unten.

HILAREE: Für Leute, die sich das erste Mal in dieser Höhe bewegen, ist es schwierig, diese supertiefe Atmung hinzubekommen.

JIM: Ich versuche richtig tief einzuatmen, bevor ich den ersten Schwung setze. Und während des Skifahrens erinnere ich mich daran, dass ich atmen, atmen und noch mal atmen muss. Und dass ich nicht vergessen darf, ganz regelmäßig Pause zu machen – besonders wenn es anfängt Spaß zu machen. Die Muskeln sind in dieser Höhe ja nicht weniger fähig, sich zu bewegen – es fehlt nur der Sauerstoff, dass sie sich erholen.

Hilaree ist sind schon länger in diesen Höhen unterwegs.

HILAREE: 2005 war ich das erste Mal auf 8.000 Metern.

JIM: Ich 2015. Auf dem Makalu.

Da habt ihr euch kennengelernt.

HILAREE: Und Jim hat so schnell aufgeholt. 2018 war er innerhalb eines halben Jahres auf drei 8000-ern!

Von dir, Hilaree, heisst es, dass du die dünne Höhenluft genießt – trotz der damit verbundenen Anstrengungen und Schmerzen.

HILAREE:. Das ist eine besondere Sphäre auf 8.000 Metern. Nirgendwo sonst hat die Luft nur 30 Prozent des normalen Sauerstoffgehalts auf Meereshöhe. I love being high. Lachen.

Auf 8.000 Meter ist man dem Weltraum näher als der Erde.

JIM: In dieser Höhe fliegen Flugzeuge. Als Mensch muss man in dieser superdünnen Atmosphäre jede Bewegung sehr methodisch angehen. Jeder Schritt, vor allem der nächste, will vorsichtig überlegt sein will. Man spürt, dass man da oben nur eine bestimmte, sehr begrenzte Zeit überleben kann.

HILAREE: Jede Bewegung fällt einem schwer, man leidet, hat schreckliche Kopfschmerzen, kann kaum was essen – aber wenn man das alles stemmt und auch noch die Schönheit der Berge bewusst wahrnimmt, hat man irgendwann – ich jedenfalls – das Gefühl, als ob man da oben an eine Grenze zu einer anderen Welt stößt. Ich nenne es das Neverland. Ich habe erlebt, wie ich mich mit verstorbenen Freunden unterhalten habe. Ich weiß natürlich, dass das nur in meinem Kopf stattgefunden hat, aber es hat sich wie ein richtiges Gespräch angefühlt.

Hattest du auch Grenzerlebnisse, Jim?

JIM: Ich habe einmal eine besondere Verbindung zu meiner Familie erlebt. Meiner Frau und meinen zwei Kindern.

TNF-Athlet Jim Morrison, Foto: The North Face - EOFT

Die du 2011 bei einem Flugzeugabsturz verloren hast.

JIM: Als ich 2018 am Everest war, hatte ich dieses wunderbar surreale Erlebnis, dass ich eine halbe Stunde lang mit ihnen gelacht und geweint habe. Es war, als ob sich die vielen Male, wo ich nach dem Tod meiner Familie auf’s Meer gestarrt und die Erdkrümmung gesehen habe, in dieser halben Stunde verdichten würden. Als ob ich sie nicht nur sehen, sondern auch berühren könnte. So viele Male seit dem Unglück hatte ich mich nach einer solchen Verbindung gesehnt – und dann passiert das ausgerechnet am Everest. An dem Tag habe ich wirklich gedacht, dass sie bei mir sind, dass sie mich bei meinem Aufstieg zum Gipfel begleiten. Und mit mir auf eine Art und Weise fröhlich und glücklich sind, die ich kaum beschreiben kann.

Wie erklärst du dir das rational?

JIM: Man kann es vielleicht mit der Euphorie beim Laufen vergleichen. Ein Marathonläufer hat mir mal erzählt, wie er im Kopf kalkuliert, wie weit er schon gelaufen ist, und wie lange er noch brauchen wird. Eigentlich eine simple Aufgabe. Aber wenn man total erschöpft ist, ist es auf einmal gar nicht so simpel. Diesen Zustand, bei dem das Gehirn vor lauter Erschöpfung fast ausgeschaltet, aber trotzdem sehr präsent und euphorisch ist, finde ich sehr interessant. Beim Bergsteigen gibt es das auch, aber es ist noch komplexer, weil sehr viel mehr reinspielt als beim Laufen: Lebensgefahr, ständig wechselnde Bedingungen, Ausrüstung, Routenwahl….

Du bist Mutter zweier Söhne, Hilaree. In welchen Momenten denkst du an deine Kinder, wenn du auf Expedition bist?

HILAREE: Das hängt von der Situation ab. Manchmal hilft es einem, in kritischen Momenten an sie zu denken. Und manchmal ist es besser, genau dann nicht an die Kinder zu denken. Ich habe beides erlebt.

Wann?

2012, als ich vom Lhotse abgestiegen bin, schon mehr als 50 Stunden am Stück wach war und es satt hatte, zu Fuß abzusteigen, weil ich so viel lieber auf Skiern abfahre, hat es mir geholfen. Ich hatte – auch weil ich nicht am Seil war - plötzlich Panik. Aber dann habe ich halluziniert, dass meine Kinder mit mir reden: Get your shit together, Mum! Reiss dich zusammen. Das hat mir geholfen, mich zu fokussieren, mich einzukriegen.

JIM: Aber es gibt auch Situationen, wo einen die Gedanken an die Familie verletzlich machen. Wenn man an sie denkt, wenn man lieber zu Hause bei ihnen geblieben wäre.

Telefonierst du mit den Kindern, wenn du auf Expedition bist?

HILAREE: Im Lager. Und bei schlechtem Wetter. Da macht man sich oft auch Vorwürfe, dass man nicht bei ihnen ist.

JIM: An Bergtagen habe ich das bei Hilaree nie erlebt. Da fokussiert sie sich ganz auf’s Klettern oder Skifahren. Aber an den Tagen im Camp fällt es ihr schwer, NICHT mit den Kindern zu telefonieren. Am Lhotse hatten wir mal längere Zeit keine Internetverbindung. Und kurz darauf war auch das Guthaben für’s Satellitentelefon aufgebraucht. Wir konnten nur noch Textnachrichten verschicken. Als sie endlich wieder mit ihren Kindern telefonieren konnte, hatte Hilaree schlagartig bessere Laune. Das war wichtig, weil das der letzte Tag vor unserem Gipfelversuch war. Das hat ihr Kraft gegeben.

In welchen Situationen war es besser, nicht an die Kinder zu denken?

HILAREE: In der Abfahrt am Papsura 2017. Wobei das mehr ein Abstieg und Abrutschen auf Skiern als eine Abfahrt war. Es war so vereist, ausgesetzt und steil - noch deutlich steiler als das Lhotse Couloir –, dass an richtiges Skifahren gar nicht zu denken war.

JIM: Eigentlich war das eine Eistour. Es gab nie einen Punkt, wo man länger Pause machen konnte. Wenn man einen Felsen sah, von dem man glaubte, dass man sich dort hinstellen oder hinsetzen könnte, war der vom Wassereis so vereist und glatt, dass es sicherer war, gleich in der Wand zu bleiben. Wir hatten im Aufstieg keine einzige Pause. In der Abfahrt genauso. Es gab keinen Safe Spot, wo man durchschnaufen und ein paar Momente der Ruhe und Sicherheit hätte genießen können. Jeder kleine Fehler und erst recht ein Sturz wären tödlich ausgegangen.

HILAREE: Es ging nur noch darum, irgendwie heil herunterzukommen. Die Sicht war so schlecht, dass man die meiste Zeit gar nichts gesehen hat. Und wenn sich plötzlich doch ein Loch im Nebel aufgetan hat, war es, als ob man in den eigenen Tod schaut.

JIM: Wenn wir etwas mehr Sicht gehabt hätten, hätten wir von einem Schneeflecken zum nächsten fahren können. Aber wir haben ja nichts gesehen. Wir haben nur gespürt, dass alles hart und vereist war. Wir standen die ganze Zeit auf den Kanten unserer Ski - und haben gehofft, dass sie halten.

HILAREE: Das alles hat mich fertig gemacht. Irgendwann stieg in mir Panik auf – wie man einen Tennisball im Brustkorb hat, der langsam nach oben wandert. Dazu hatte ich ständig Bilder von meinen Kindern im Kopf. Und von mir, wie ich abstürze. Es ging mir wirklich schlecht.

Die Gedanken an die Kinder hat die Angst vor einem Absturz also verstärkt?

HILAREE: Genau. Ich musste eine Pause einlegen, damit es nicht noch schlimmer wird. Ich hab mich umgedreht und nach oben geblickt, um nicht mehr den Abgrund zu sehen. Dann hab ich mich etwa 15 Sekunden nur auf meine Atmung konzentriert. Und die Gedanken an meine Kinder aus meinem Kopf verbannt. Bald darauf war die Panik weg.

Kann man sich auf so etwas vorbereiten?

JIM: Man muss. Wenn man dort Ski fährt, wo jeder Sturz tödlich endet, darf keine unkontrollierbare Angst aufkommen, die sich zu Panik auswächst. Und falls doch, braucht man Gegenstrategien.

Kontrollierte Angst ist also okay?

JIM: Notwendig! Wenn ich dort, wo ich unter keinen Umständen stürzen darf, keine Angst empfinde, stimmt irgendwas nicht. Manchmal passiert mir das: Dass ich mich superwohl fühle, wo ich eigentlich Angst spüren müsste. Weil ich mich offenbar zu sehr an die Ausgesetztheit gewöhnt habe.

Was machst du dann?

JIM: Dann halte ich an und mache mir klar: ‚Kapier mal, dass hier alles ganz präzise ablaufen muss. Du solltest Angst empfinden!‘ Aber sie darf eben auch nicht so groß werden, dass sie einen daran hindert, zu performen und zu funktionieren.

Was machst du in dem Fall?

JIM: lch halte an, atme durch und versuche, mich zu sammeln – so wie Hilaree am Papsura. Manchmal hilft es mir, einfach nur meine Ausrüstung zu checken. Man muss sich nur kurz aus der Angst ausklinken, in sicherer Position Pause machen und verstehen, dass man eigentlich total safe ist.

HILAREE: Wenn man sich mit anderen Alpinisten unterhält, stellt man fest, dass jeder solche Situationen erlebt hat. Und jeder seine eigene Strategie hat, die Angst zu regulieren.

Ist bei euch das Risiko- und Angstempfinden ähnlich ausgeprägt?

JIM: Ziemlich.

HILAREE: Aber es gibt auch genügend Unterschiede, dass wir uns nichts vormachen. Und voneinander lernen können.

JIM: Manchmal spüre ich, wenn Hilaree Angst bekommt – dann fahre ich vor, rede mit ihr, versuche ihr zu helfen, ermuntere sie. Manchmal hilft es, einfach nur zu reden. Manchmal sagt sie aber auch: Sei bitte ruhig und fahr weiter. Lachen.

Im normalen Leben bist du Bauunternehmer am Lake Tahoe, Jim. Hat das irgendeinen Bezug zu deinen Expeditionen?

JIM: Sehr sogar. Als Bauunternehmer musst du viele verschiedene Menschen – Handwerker, Architekten, Bauherren - unter einen Hut bringen. Du musst organisieren, dass alle an einem Strang ziehen. Alles muss einem Zeitplan folgen. Das ist kaum anders als die Organisation einer Expedition. Da geht es auch um einen Zeitplan, um gute, flexible Organisation, darum, andere Beteiligte zu motivieren. In solchen Dingen bin ich über die Jahre ziemlich gut geworden – das hilft auch bei unseren Expeditionen.

TNF-Athletin Hilaree Nelson, Foto: The North Face - EOFT

Du, Hilaree, hast in deiner Kindheit mit den Eltern sehr viel Zeit auf Booten und dem Meer verbracht. Nützt dir das heute auf Expedition?

HILAREE: Was ich auf See gelernt habe, hilft mir, gut drauf zu bleiben, auch wenn man auf ganz wenig Platz an einen Ort gefesselt ist und tagelang nicht wegkann. Damals im Sturm auf einem Boot. Heute eben im Zelt, wenn einen das Wetter festnagelt.

Wie machst du das?

HILAREE: Ich kenne ungefähr einhundert verschiedene Kartenspiele. Lachen. Und ich weiß, wie man den Leerlauf organisiert, um motiviert zu bleiben. Beim Expeditionsbergsteigen sind die langen Tage, wo man zum Nichtstun verdammt ist, oft die größte Herausforderung. Da muss man aufpassen, dass man nicht wütend wird oder die Hoffnung verliert.

JIM:. In großer Höhe fällt das noch schwerer, weil man sich eh nicht besonders gut fühlt. Es ist ja noch okay, wenn man wenigstens spazieren gehen kann. Aber wenn man im Zelt bleiben muss, lenkt einen gar nichts davon ab, dass einem das Atmen schwer fällt, dass du Kopfschmerzen hast und hungrig bist, aber nichts runterbekommst. Man fühlt sich scheisse.

Wie Seekrankheit mit zu wenig Sauerstoff?

HILAREE: Das trifft es gut. Und ich schließlich beides. Lachen. Aber ich konnte schon damals auf dem Boot, bei Sturm ziemlich gut schlafen, mich ausruhen. Wer hätte gedacht, dass mich das Segeln mit meinen Eltern auf Bergexpeditionen vorbereitet? Eigentlich seltsam. Aber wir waren oft sechs Wochen am Stück auf dem Boot, in wirklich wilden Meeresgegenden – das ist kaum anders als eine Expedition.

JIM: Auf einem Boot hast du auch nur das, was du dabei hast. Und musst damit auf engstem Raum klarkommen. Wie in einem Expeditionszelt.

HILAREE: Mir gefällt das. Oft denke ich mir: Alles, was du brauchst, ist in deinem Rucksack. Ich finde das befreiend. Leider verliert man dieses Feeling im normalen Alltag.

Du bist seit 20 Jahren Ski- und Bergprofi, Hilaree. Wie denkst du heute über die Rolle der Frauen im Alpinismus?

HILAREE: Als ich anfing, hat mir die Tatsache, dass ich eine Frau bin, viele Türen geöffnet. Mittlerweile gibt es viel mehr Alpinistinnen und Skifahrerinnen, die unglaubliche Sachen machen. Deswegen spielt die Frage, ob das eine Frau ist, die am Berg etwas geleistet hat, heute eine etwas kleinere Rolle. Nach wie vor ist man aber oft noch die einzige Frau in einem Team – allerdings gibt es mittlerweile sehr viel solcher Teams. Außerdem ist vielen mittlerweile klar, dass eine Frau die Dynamik und Psychologie eines Teams verändert – und zwar positiv.

Wodurch?

HILAREE: Eine Frau führt oft dazu, dass mehr diskutiert wird. Frauen sind oft ein gutes Gegengewicht zum Konkurrenzdruck unter Männern.

Erlebst du das auch so, Jim?

JIM: Unbedingt. Frauen wollen Dinge diskutieren, die Männer oft stillschweigend voraussetzen. Die Stärke von Hilaree und mir als Team besteht vor allem darin, dass sie eine Frau ist und ich ein Mann bin. Wir reden die ganze Zeit über Risiken, unseren Plan und ob er noch gut ist. Wenn man Bergunfälle studiert, lernt man, dass viele nicht passiert wären, wenn vorher ein paar wichtige Dinge besprochen worden wären. Aber was ich noch sagen wollte zur Geschlechterfrage im Bergsteigen…

Gerne.

JIM: Das Besondere an Hilaree ist, dass sie oft nicht nur die Erstbefahrung einer Frau vorlegt. Sondern die Erstbefahrung überhaupt. Punkt.

Macht dich das stolz?

JIM:Es inspiriert mich, dass Hilaree nicht nur vielen Frauen ein Vorbild ist, sondern auch für Männer. Es gibt viele Männer die sagen: Hilaree Nelson ist so ein badass. Sie trägt dazu bei, die Unterscheidung zwischen männlichem und weiblichem Bergsteigen abzubauen.

Wie siehst du das, Hilaree?

HILAREE: Mir ist am wichtigsten, dass es jetzt viel mehr Frauen gibt, die nicht mit dem Alpinismus aufhören, wenn sie Kinder bekommen. Das eröffnet viele Möglichkeiten. Wichtig ist aber auch, dass es nicht nur um meine Sicht der Dinge geht. Sondern auch um die Perspektive meiner Söhne. Ich lebe ein Leben als Profibersteigerin. Und gleichzeitig ziehe ich zwei Kinder groß.

Was denken deine Söhne über ihre Mutter, die Profibergsteigerin?

HILAREE: Manchmal machen sie sich lustig über mich. Meistens finden sie aber toll, was ich mache. Vor einem Jahr habe ich sie zum Treffen meines Teams nach Puerto Rico mitgenommen.

Als du Captain des North-Face-Teams wurdest?

HILAREE: Genau. Da konnten sie sehen, dass ich nicht die einzige bin, die solche Sachen macht. Und dass ihre Mutter der Captain ist – auch für die Männer im Team. Vielleicht wird es für ihre Generation ganz normal sein, dass Frauen die gleichen Sachen machen wie Männer.

Wie gleichberechtigt sind Frauen heute?

HILAREE: Es gibt natürlich immer noch viel zu tun, da bin ich nicht naiv. Aber wir sind auf einem guten Weg – jedenfalls im Bergsteigen. Ich glaube allerdings, dass wir nicht mehr vom männlichen oder weiblichen Bergsteigen reden sollten. Sondern vom Bergsteigen gleichberechtigter Männer und Frauen. Wenn wir das künstlich getrennt halten, ziehen wir die nächste Generation groß, die den Gedanken der Gleichberechtigung nicht wirklich teilt.

Woran machst du den Fortschritt fest?

HILAREE: Meine Mutter wuchs noch in einer Welt auf, wo beim Basketball von Mädchen erwartet wurde, dass sie nach zweimal Dribbeln den Ball wieder halten - weil Frauen angeblich nicht Laufen konnten. Lachen. Bei so was denke ich oft an Lynn Hill, der die erste freie Besteigung von The Nose gelang.

JIM: Bis 1993 galt The Nose als nicht frei kletterbar. Aber dann kam Lynn Hill. Ihr berühmter Satz danach lautete: Es geht, Jungs!

HILAREE: Sie hat es den Männern gezeigt.

Vorhin sagtest Du aber, dass man nicht zwischen männlichem und weiblichem Bergsteigen unterscheiden sollte.

HILAREE: Aber eine Zeitlang war dieses Denken sehr hilfreich. Das hat viele Frauen ermutigt, den Weg ins Bergsteigen, auch ins Profibergsteigen zu gehen. Es wäre natürlich schön, wenn es irgendwann überflüssig würde. Aber dafür müssen auch wir Frauen noch einiges tun.

Was?

HILAREE: Lange Zeit gab es in vielen Teams oder Sponsoring-Programmen nur einen einzigen Platz für Frauen. Das hat dazu geführt, dass wir uns wie Konkurrentinnen verhielten. Wir waren zu lange keine Mentorinnen füreinander. Umso schöner, dass sich das seit einiger Zeit ändert. Statt ‚Ich bin besser als du‘, heißt es jetzt viel öfter: ‚Das kannst du auch!‘ Da passiert gerade ein großer Mentalitätswandel. Einer, den wir unbedingt zu Ende gehen müssen.

 

Der Interviewer Claus Lochbihler mit Hilaree Nelson und Jim Morrion
Der Interviewer Claus Lochbihler mit Hilaree Nelson und Jim Morrion - Foto: Toni Brey

 

Der Film über Hilaree Nelsons und Jim Morrisons Erstbefahrung des Lhotse-Couloirs ist im Kino bei der „European Outdoor Film Tour zu sehen“. Zum Beispiel:

  • Di, 03.03.2020, 19:00 Kurort Oberwiesenthal (Deutschland) Ev.-Luth. Kirchgemeinde am Fichtelberg
  • Sa, 22.02.2020, 18:30 München (Deutschland) f.r.e.e. - Die Reise- und Freizeitmesse
  • Di, 07.04.2020, 18:30 Morzine (Frankreich) Domain du Baron

Alle Termine unter: https://de.eoft.eu/de/tickets/

„Lhotse“ (23 Minuten) auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=wPXSFVruIHI

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