Die du 2011 bei einem Flugzeugabsturz verloren hast.
JIM: Als ich 2018 am Everest war, hatte ich dieses wunderbar surreale Erlebnis, dass ich eine halbe Stunde lang mit ihnen gelacht und geweint habe. Es war, als ob sich die vielen Male, wo ich nach dem Tod meiner Familie auf’s Meer gestarrt und die Erdkrümmung gesehen habe, in dieser halben Stunde verdichten würden. Als ob ich sie nicht nur sehen, sondern auch berühren könnte. So viele Male seit dem Unglück hatte ich mich nach einer solchen Verbindung gesehnt – und dann passiert das ausgerechnet am Everest. An dem Tag habe ich wirklich gedacht, dass sie bei mir sind, dass sie mich bei meinem Aufstieg zum Gipfel begleiten. Und mit mir auf eine Art und Weise fröhlich und glücklich sind, die ich kaum beschreiben kann.
Wie erklärst du dir das rational?
JIM: Man kann es vielleicht mit der Euphorie beim Laufen vergleichen. Ein Marathonläufer hat mir mal erzählt, wie er im Kopf kalkuliert, wie weit er schon gelaufen ist, und wie lange er noch brauchen wird. Eigentlich eine simple Aufgabe. Aber wenn man total erschöpft ist, ist es auf einmal gar nicht so simpel. Diesen Zustand, bei dem das Gehirn vor lauter Erschöpfung fast ausgeschaltet, aber trotzdem sehr präsent und euphorisch ist, finde ich sehr interessant. Beim Bergsteigen gibt es das auch, aber es ist noch komplexer, weil sehr viel mehr reinspielt als beim Laufen: Lebensgefahr, ständig wechselnde Bedingungen, Ausrüstung, Routenwahl….
Du bist Mutter zweier Söhne, Hilaree. In welchen Momenten denkst du an deine Kinder, wenn du auf Expedition bist?
HILAREE: Das hängt von der Situation ab. Manchmal hilft es einem, in kritischen Momenten an sie zu denken. Und manchmal ist es besser, genau dann nicht an die Kinder zu denken. Ich habe beides erlebt.
Wann?
2012, als ich vom Lhotse abgestiegen bin, schon mehr als 50 Stunden am Stück wach war und es satt hatte, zu Fuß abzusteigen, weil ich so viel lieber auf Skiern abfahre, hat es mir geholfen. Ich hatte – auch weil ich nicht am Seil war - plötzlich Panik. Aber dann habe ich halluziniert, dass meine Kinder mit mir reden: Get your shit together, Mum! Reiss dich zusammen. Das hat mir geholfen, mich zu fokussieren, mich einzukriegen.
JIM: Aber es gibt auch Situationen, wo einen die Gedanken an die Familie verletzlich machen. Wenn man an sie denkt, wenn man lieber zu Hause bei ihnen geblieben wäre.
Telefonierst du mit den Kindern, wenn du auf Expedition bist?
HILAREE: Im Lager. Und bei schlechtem Wetter. Da macht man sich oft auch Vorwürfe, dass man nicht bei ihnen ist.
JIM: An Bergtagen habe ich das bei Hilaree nie erlebt. Da fokussiert sie sich ganz auf’s Klettern oder Skifahren. Aber an den Tagen im Camp fällt es ihr schwer, NICHT mit den Kindern zu telefonieren. Am Lhotse hatten wir mal längere Zeit keine Internetverbindung. Und kurz darauf war auch das Guthaben für’s Satellitentelefon aufgebraucht. Wir konnten nur noch Textnachrichten verschicken. Als sie endlich wieder mit ihren Kindern telefonieren konnte, hatte Hilaree schlagartig bessere Laune. Das war wichtig, weil das der letzte Tag vor unserem Gipfelversuch war. Das hat ihr Kraft gegeben.
In welchen Situationen war es besser, nicht an die Kinder zu denken?
HILAREE: In der Abfahrt am Papsura 2017. Wobei das mehr ein Abstieg und Abrutschen auf Skiern als eine Abfahrt war. Es war so vereist, ausgesetzt und steil - noch deutlich steiler als das Lhotse Couloir –, dass an richtiges Skifahren gar nicht zu denken war.
JIM: Eigentlich war das eine Eistour. Es gab nie einen Punkt, wo man länger Pause machen konnte. Wenn man einen Felsen sah, von dem man glaubte, dass man sich dort hinstellen oder hinsetzen könnte, war der vom Wassereis so vereist und glatt, dass es sicherer war, gleich in der Wand zu bleiben. Wir hatten im Aufstieg keine einzige Pause. In der Abfahrt genauso. Es gab keinen Safe Spot, wo man durchschnaufen und ein paar Momente der Ruhe und Sicherheit hätte genießen können. Jeder kleine Fehler und erst recht ein Sturz wären tödlich ausgegangen.
HILAREE: Es ging nur noch darum, irgendwie heil herunterzukommen. Die Sicht war so schlecht, dass man die meiste Zeit gar nichts gesehen hat. Und wenn sich plötzlich doch ein Loch im Nebel aufgetan hat, war es, als ob man in den eigenen Tod schaut.
JIM: Wenn wir etwas mehr Sicht gehabt hätten, hätten wir von einem Schneeflecken zum nächsten fahren können. Aber wir haben ja nichts gesehen. Wir haben nur gespürt, dass alles hart und vereist war. Wir standen die ganze Zeit auf den Kanten unserer Ski - und haben gehofft, dass sie halten.
HILAREE: Das alles hat mich fertig gemacht. Irgendwann stieg in mir Panik auf – wie man einen Tennisball im Brustkorb hat, der langsam nach oben wandert. Dazu hatte ich ständig Bilder von meinen Kindern im Kopf. Und von mir, wie ich abstürze. Es ging mir wirklich schlecht.
Die Gedanken an die Kinder hat die Angst vor einem Absturz also verstärkt?
HILAREE: Genau. Ich musste eine Pause einlegen, damit es nicht noch schlimmer wird. Ich hab mich umgedreht und nach oben geblickt, um nicht mehr den Abgrund zu sehen. Dann hab ich mich etwa 15 Sekunden nur auf meine Atmung konzentriert. Und die Gedanken an meine Kinder aus meinem Kopf verbannt. Bald darauf war die Panik weg.
Kann man sich auf so etwas vorbereiten?
JIM: Man muss. Wenn man dort Ski fährt, wo jeder Sturz tödlich endet, darf keine unkontrollierbare Angst aufkommen, die sich zu Panik auswächst. Und falls doch, braucht man Gegenstrategien.
Kontrollierte Angst ist also okay?
JIM: Notwendig! Wenn ich dort, wo ich unter keinen Umständen stürzen darf, keine Angst empfinde, stimmt irgendwas nicht. Manchmal passiert mir das: Dass ich mich superwohl fühle, wo ich eigentlich Angst spüren müsste. Weil ich mich offenbar zu sehr an die Ausgesetztheit gewöhnt habe.
Was machst du dann?
JIM: Dann halte ich an und mache mir klar: ‚Kapier mal, dass hier alles ganz präzise ablaufen muss. Du solltest Angst empfinden!‘ Aber sie darf eben auch nicht so groß werden, dass sie einen daran hindert, zu performen und zu funktionieren.
Was machst du in dem Fall?
JIM: lch halte an, atme durch und versuche, mich zu sammeln – so wie Hilaree am Papsura. Manchmal hilft es mir, einfach nur meine Ausrüstung zu checken. Man muss sich nur kurz aus der Angst ausklinken, in sicherer Position Pause machen und verstehen, dass man eigentlich total safe ist.
HILAREE: Wenn man sich mit anderen Alpinisten unterhält, stellt man fest, dass jeder solche Situationen erlebt hat. Und jeder seine eigene Strategie hat, die Angst zu regulieren.
Ist bei euch das Risiko- und Angstempfinden ähnlich ausgeprägt?
JIM: Ziemlich.
HILAREE: Aber es gibt auch genügend Unterschiede, dass wir uns nichts vormachen. Und voneinander lernen können.
JIM: Manchmal spüre ich, wenn Hilaree Angst bekommt – dann fahre ich vor, rede mit ihr, versuche ihr zu helfen, ermuntere sie. Manchmal hilft es, einfach nur zu reden. Manchmal sagt sie aber auch: Sei bitte ruhig und fahr weiter. Lachen.
Im normalen Leben bist du Bauunternehmer am Lake Tahoe, Jim. Hat das irgendeinen Bezug zu deinen Expeditionen?
JIM: Sehr sogar. Als Bauunternehmer musst du viele verschiedene Menschen – Handwerker, Architekten, Bauherren - unter einen Hut bringen. Du musst organisieren, dass alle an einem Strang ziehen. Alles muss einem Zeitplan folgen. Das ist kaum anders als die Organisation einer Expedition. Da geht es auch um einen Zeitplan, um gute, flexible Organisation, darum, andere Beteiligte zu motivieren. In solchen Dingen bin ich über die Jahre ziemlich gut geworden – das hilft auch bei unseren Expeditionen.